Sprachenvielfalt ist eine gesellschaftliche Realität. Alle Kinder haben ein Recht, daran teilhaben und davon profitieren zu können.
Sprache erwerben, Sprachen lernen und Sprachen erhalten und weiterentwickeln heisst, sich Fähigkeiten aneignen, die weit über das hinausgehen, was üblicherweise mit Sprachkenntnissen gemeint ist. Dies bedeutet eine Auseinandersetzung mit Inhalten, Weltbildern, Kulturen. Zusammenhänge mit Denkfähigkeit, Sozialisierung und Identitätsbildung sind offensichtlich. Sprache und Sprachen sind die Grundlage der Kommunikation und des Lernens selber. Deshalb ist es ein zentraler Auftrag des Bildungswesens, das Sprachlernen dauernd und in jeder Beziehung zu unterstützen.
Die Vermittlung der lokalen Schulsprache hat eine hohe Priorität. Kompetenz in dieser Sprache ist wichtig, um in der Gesellschaft bestehen zu können. Wie Studien zeigen, ist es nötig, dass die Schule die Förderung der zwei- und mehrsprachigen Kinder und Jugendlichen in der lokalen Schulsprache weiter verbessert. Mit einer sinnvollen Differenzierung kann der Unterricht Lernende mit verschiedenen Vorkenntnissen erreichen. Das Lernen verschiedener Sprachen kann durch die Entwicklung einer sprachenübergreifenden Didaktik miteinander verbunden werden.
Kinder, deren Erstsprache nicht die Schulsprache ist, lernen die Schulsprache als zweite, manchmal auch als dritte oder vierte Sprache. Ihre Familien sind eingewandert, aus anderssprachigen Landesteilen zugewandert, oder ihre Eltern sprechen verschiedene Sprachen. Diese Kinder wachsen zwei- oder mehrsprachig auf. Dies könnte ein Vorteil sein, wirkt sich heute, insbesondere für zwei- oder mehrsprachige Kinder von Arbeitsimmigranten, jedoch oft nachteilig aus. Dies drückt sich in ihrer Überrepräsentation in tieferen Zweigen der Sekundarstufe I und in Sonderklassen wie auch in ihrer Unterrepräsentation in Mittelschulen und anspruchsvolleren Berufslehren aus. Die öffentliche Schule kann ihrem Anspruch, Schule für alle zu sein, nur gerecht werden, wenn sie diese strukturelle Benachteiligung abbaut.
Lernen in ihrer Erstsprache unterstützt die zwei- oder mehrsprachig aufwachsenden Kinder darin, ihre Sprachen, ihr Denken und Handeln zu entfalten, eine starke Identität aufzubauen und damit einen guten Schulerfolg zu erreichen.
Für die zwei- oder mehrsprachig aufwachsenden Kinder und ihre Familien, aber auch für einsprachig aufwachsende Menschen ist es von Vorteil, wenn das Bildungswesen die Zwei- und Mehrsprachigkeit fördert. Vielsprachige Bildung ermöglicht vielseitige Kommunikation, sie bietet Chancen für ein interkulturelles Zusammenleben und -arbeiten in der Schweiz und weltweit.
Das schulische Lernen der Erstsprache und weiterer Sprachen ist ein Menschenrecht.
Es ist im Interesse der gesamten Gesellschaft, den eingewanderten Menschen eine gute Bildung zu ermöglichen, auch in ihren mitgebrachten Sprachen. Das ist nicht nur eine kulturelle Bereicherung, sondern auch von erheblichem volkswirtschaftlichem Nutzen. Die öffentliche Finanzierung des Unterrichts in Erstsprachen (bisher wahrgenommen von den «Kursen in Heimatlicher Sprache und Kultur») ist auch aus diesen Gründen gerechtfertigt.
Unterricht in den verschiedenen Erstsprachen («Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur») stärkt die Sprachkompetenzen und das Selbstbewusstsein der Kinder. Erfahrungsgemäss ist der Aufbau des Selbstbewusstseins auch ein Beitrag zu Integration und Gewaltprävention. In diesem Sinne hat ein solcher Unterricht bereits in einem von Monolingualismus geprägten Schulumfeld eine grosse integrative Wirkung und trägt erheblich zu einem guten «Schulklima» bei.
Die Institution Schule kann durch die umfassende Anerkennung und Wertschätzung der Mehrsprachigkeit (und nicht nur jener der «Bildungseliten») deren positive Wirkungen massiv verstärken.
Die unterzeichnenden Organisationen und Einzelpersonen sind der Überzeugung, dass die Sprachenvielfalt in der Schweiz, welche aus vier Landessprachen und vielen andern Sprachen besteht, ein grosses Potenzial darstellt und dass es ein zentrales Anliegen des Schweizer Bildungswesens sein muss, diese Sprachenvielfalt zu entwickeln.
Sie fordern die bildungs- und sprachenpolitisch Verantwortlichen in Bund, EDK, Kantonen und Gemeinden mit allem Nachdruck auf, ihre Verantwortung in inhaltlicher, rechtlicher, organisatorischer und finanzieller Hinsicht wahrzunehmen und in Zusammenarbeit mit den Trägerschaften den bisherigen Unterricht in den verschiedenen Erstsprachen («Kurse in Heimatlicher Sprache und Kultur HSK») in die öffentliche Schule zu integrieren.
Sie begrüssen den Entscheid der Schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz EDK, die Unterstützung der HSK-Kurse durch die Kantone mittels organisatorischer Massnahmen in das Konkordat HarmoS aufzunehmen und werten dies als wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Die Kantone fordern sie auf, diese Unterstützung unverzüglich zu konkretisieren. Die EDK wird aufgefordert, eine Stelle einzurichten, die zentrale und koordinierende Unterstützungsleistungen in diesem Bereich zuhanden der Kantone erbringt.
Die Interessengemeinschaft Erstsprachen fordert vom Bund, der EDK, den Kantonen und Gemeinden:
Die Institution Schule muss Mehrsprachigkeit anerkennen und fördern, indem sie diese zum Teil des Kerngeschehens in der Schule macht. Die Förderung der Erstsprachen gehört in das «normale» Schulprogramm, sie darf nicht länger eine Randexistenz führen. Sie soll allen interessierten Lernenden offen stehen. Ziel ist es, Sprachkompetenzen in vielen Sprachen zu vermitteln, aber auch die Integration zwei- und mehrsprachiger Kinder in die Schule und die Gesellschaft zu fördern.
Alle Kantone sollen gemäss Art. 4 des Harmos-Konkordats die organisatorischen Massnahmen zur Unterstützung der Kurse HSK unverzüglich konkretisieren, einleiten oder ausbauen. Der erste unabdingbare Schritt ist, dass Unterricht in Erstsprachen (HSK-Kurse) in offiziellen Schulräumen und zu offiziellen Unterrichtszeiten stattfindet, mit offiziellem Schulmaterial unterstützt wird und die Leistungen aus diesem Unterricht ins Schulzeugnis eingetragen werden.
Im Rahmen der Reformaufgaben des HarmoS-Konkordats sind weitere Schritte unverzüglich einzuleiten:
Beim Übergang von der Familie in die Schule, in familienergänzenden Einrichtungen, im heutigen Kindergarten und in den neuen Eingangsstufen (Basis- oder Grundstufe) ist es besonders wichtig, die Erstsprachen weiter bewusst zu fördern. Darauf aufbauend muss der Unterricht in Erstsprachen Teil der öffentlichen Schule bis hin zur Sekundarstufe II werden – als Wahlfächer in Mittel- und Berufsfachschulen bis hin zur Möglichkeit einer zweisprachigen Matura. Die im Unterricht in den Erstsprachen erworbenen Sprachkenntnisse sollen ausgewiesen und zertifiziert werden (Zeugnisnote, Sprachenportfolio, Zertifikat). Dieses Mehrwissen soll bei Laufbahnentscheiden anerkannt werden.
In den Sprachförder-Programmen aller Stufen gebührt den verschiedenen Erstsprachen ein angemessener Platz. Dazu gehören Elemente wie ELBE (éveil au langage et ouverture aux langues, language awareness, Begegnung mit Sprachen), Sprachenportfolio, Konzepte einer integrierten Sprachdidaktik, koordinierte Sprachdidaktik in der Lehrerbildung. Insbesondere gehört der Unterricht in den Erstsprachen der Kinder auch in die sprachregionalen Lehrpläne, die in Folge des HarmoS-Konkordats entwickelt werden.
Der Sprachunterricht in allen Sprachfächern der öffentlichen Schule und der Unterricht in Erstsprachen (Kursen HSK) ergänzen sich und müssen deshalb aufeinander abgestimmt sein, zum Beispiel mit einem gemeinsamen Rahmenlehrplan und gemeinsamen pädagogischen Haltungen zum Sprachunterricht und zur Sprachförderung. Die Lehrpersonen des erstsprachlichen Unterrichts (Kurse HSK) bringen spezielle Ressourcen und Kompetenzen mit. Durch Programme und Projekte der Zusammenarbeit in der öffentlichen Schule können diese anerkannt und genutzt werden.
Zur Bewältigung dieser neuen Ansprüche bedarf es guter Rahmenbedingungen für die Lehrpersonen. Wichtig sind insbesondere anstellungsrechtliche Gleichstellung und ausreichende Weiterbildungsprogramme. Für die Entwicklung der öffentlichen Schule hin zur Mehrsprachigkeit sind die nötigen zeitlichen Ressourcen und finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Pädagogischen Hochschulen, die Universitäten und das geplante „Kompetenzzentrum Sprachen“ haben die Verantwortung, im Bereich der Mehrsprachigkeit und auch des Unterrichts in verschiedenen Erstsprachen für die Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen aller Stufen und die entsprechende Forschung zu sorgen. Dafür sind nationale und internationale Zusammenarbeit und entsprechende Forschungs- und Entwicklungskredite notwendig.
Fazit: Die Zukunft der öffentlichen Schule – die das Recht auf Bildung für alle umsetzt – liegt in der Mehrsprachigkeit. Das kann verwirklicht werden, wenn das öffentliche Bildungswesen auch für den Unterricht in den Erstsprachen (Kurse HSK) die volle inhaltliche, rechtliche, organisatorische und finanzielle Verantwortung übernimmt, in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern und den Organisationen der verschiedenen Sprachgemeinschaften. Dies soll für die obligatorische Schule im Rahmen der Umsetzung des HarmoS-Konkordats erfolgen.
Bereinigt und beschlossen von der Gründungssitzung der Interessengemeinschaft Erstsprachen vom 22. September 2007